Kuratiertes Chaos als Kunst-Rebellion | UnAuf ONLINE | Studierendenzeitung der HU Berlin (2024)

Die Notagallery taucht in ihrer Gruppenausstellung „Gesunder Größenwahn“ mit etablierten und neuen Künstler*innen in die Abgründe der menschlichen Emotionen ein. Dabei ist so ziemlich alles erlaubt, nur langweilig darf es nicht sein. Sogar Schaukeln darf man.

Den Umzug vom Sexshop an der Kurfürstenstraße in die Stahl- und Glasgebäude des Potsdamer Platzes feiert die 2022 gegründete Notgallery mit der Gruppenausstellung „Gesunder Größenwahn“. Hierbei liegt die Betonung auf „Gruppe”, denn im ehemaligen Fernsehstudio des Nachrichtensenders N24 werden auf zwei Etagen 32 Künstler*innen präsentiert. Neben bekannten Größen wie Andy Warhol oder Lawrence Schiller, liegt der Fokus des Kurators Ivan Gette besonders auf jungen, unkonventionellen Talenten.

Beim Betreten der lichtdurchfluteten Galerie wird man von den zwei mal zwei Meter großen Gemälden des Berliner Künstlers Olivier Kéros fast erschlagen. Smileys in allen Variationen, die einen mit großen Augen anstarren, reihen sich an Sonnen und Planeten, die in unendlichen Galaxien zu verschwinden scheinen.
Jedoch rückt dieser Rausch der Gefühle durch zwei montierte Schaukeln von Enno Haar schnell in den Hintergrund. Der Street-Art Künstler ist dafür bekannt, Alltagsgegenstände in ungewöhnlichen Kontexten zu platzieren, um ihre Bedeutung damit in Relation zu setzen. Erinnert sich jemand noch an die lila-strahlenden U-Bahnen diesen Februar in Berlin?

Eigene Handlungen und Privilegien hinterfragen

Und tatsächlich kommt man nach ein paar Schwüngen auf der Schaukel durch ein kleines Foto neben der Installation ins Grübeln, auf dem das Gerüst der Schaukel zu sehen ist, nur ohne Schaukel eben. Der Kontrast zwischen der gegenwärtigen Schaukel in der Galerie und der fehlenden Schaukel auf dem Foto deuten eine Geschichte der Vertreibung an und weckt gleichzeitig den Wunsch nach kindlicher Unbeschwertheit. Ist es akzeptabel, globale Konflikte auf Kosten einer jüngeren, möglicherweise bedürftigeren Generation auszutragen? Die Schaukeln scheinen daher für den Verlust der Kindheit zu stehen, der durch gewaltsame Kriege für viele bittere Realität geworden ist.

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Auch Alexander Diks Ölgemälde „Bombenfänger“ hinterlassen den Betrachter verstummt. Es zeigt eine üppige Silhouette, grobe Pinselführung sowie kräftige Farben drohen den Bombenfänger zu verschlingen, es ist Feuer und Blut zu erkennen. Die Darstellung eines desorientierten, verletzten und entwurzelten Helden provoziert und erinnert an Georg Baselitz neoexpressionistische Gemälde, die sich vorwiegend mit den Traumata der Kriegs- und Nachkriegszeit auseinandersetzen. Der 1983 in Kasachstan geborene und 1992 nach Berlin migrierte neoradikale Künstler gibt mit seinen Gemälden eine trotzige Antwort auf Umweltkrise und politische Ideologien – in Zeiten von Nahostkonflikt und dem russischem Angriffskrieg auf die Ukraine aktueller denn je. Der Künstler zeigt das, was weh tut, wo weggeschaut wird, und macht es mit seiner grotesken Formsprache wütender, aggressiver und gelegentlich auch sarkastisch. Ein scharfes Instrument, das nicht verwunden, sondern zum Dialog anregen soll.

Aus alten Mustern ausbrechen

Den Dialog anregen, das ist auch das Konzept der Notagallery. Kurator und Künstler Ivan Gette beschreibt seine Galerie keineswegs als typischen Ausstellungsraum, vielmehr ist es ein Ort, an dem sich verschiedenste Menschen vernetzen, feiern, aber auch Geschäfte machen. So präsentieren bei regelmäßig stattfindenden Notagallery-Sessions” junge Musiker*innen ihre eigenen Songs live und bringen dabei Berlins Kunstszene zusammen. Mit diesen Veranstaltungen schafft die Galerie einen Raum, in dem Kreativität und Innovation gedeihen können, ganz ohne Zwänge und Konventionen. Dieser Ansatz lässt sich auch in Gettes Kuration erkennen, die mutig, aber keineswegs undurchdacht, Künstler*innen in einer Ausstellung vereint, die unterschiedlicher nicht sein könnten.

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Nebe den Fotografien von Berghain-Türsteher Sven Marquardt, der Männer mit Tattoos am ganzen Körper und Springerstiefel zerbrechlich und intim darstellt, sowie Heidi Popovics Schönheitsideale in Frage stellender Parodie von Andy Warhols „Shot Marilyn“, fällt Meng Yang Yangs „Girls Series“ ins Auge. Die Ölgemälde zeigen zaghafte, fest schon schutzbedürftigen Mädchen in surrealer Ästhetik. Die Köpfe wirken unverhältnismäßig groß im Gegensatz zu ihren zierlichen Körpern. Aggressive rote und neongrüne Akzente in den Augen dominieren die Bilder und lassen die Körper noch kleiner erscheinen. Eine Mischung aus kindlicher Naivität und bedrohlicher Intensität beherrschen das Bild.
Im Kontext von Meng Yang Yangs chinesischer Herkunft lassen sich ihre Werke als avantgardistische Antwort auf die sozialrealistischen Darstellungen in der chinesischen Kunst verstehen. Neben dieser Reaktion auf die Kulturrevolution, im Zuge derer dieser Stil autoritär durchgesetzt wurde, stellen die Gemälde auch gesellschaftliche Ansprüche an Mädchen infrage. Wer sagt, dass Mädchen adrett zurechtgemacht sein und mit einer Puppe spielend auf ihre spätere Rolle als Mutter und Hausfrau vorbereitet werden müssen? Mädchen können und sollen die Welt erkunden, ihre eigene Stimme finden und lernen, dass der Verstand ihr höchstes Gut ist.
Und genau diese Unerschrockenheit vereinen die anfangs so unterschiedlich wirkenden 32 Künstler*innen. Ihr kritisches Reflektieren gesellschaftlicher Normen und die daraus mündende Unangepasstheit sind die Quelle ihres Ideenreichtums. Denn es benötigt mutige Visionen und kreative Risiken, um Wandel und Fortschritt zu erreichen, nicht nur in der Kunstwelt.

Gesunder Größenwahn”, Notagallery, Marlene-Dietrich-Platz 5, 10785 Berlin, bis 23. November, Eintritt frei.

Foto: ©Notagallery

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